Hermann Nitsch

Schöpfung, Ekstase, Schmerz, Tod, Auferstehung: So gewaltig die Themen sind, mit denen sich Hermann Nitsch zeitlebens befasst, so radikal und kompromisslos ist auch sein interdisziplinäres Gesamtkunstwerk, das um das menschliche Sein in all seinen Facetten kreist. Im Zentrum steht das Orgien Mysterien Theater, dessen Grundidee Nitsch 1956 zunächst als literarisches Urdrama konzipierte. Unter dem Einfluss der Aktionskunst ist daraus eine Vielzahl an Projekten und Performances hervorgegangen, die sich an der Schnittstelle zwischen Leben, Theater, Malerei und Musik bewegen. Neben Nitschs profunder Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie bilden die Passion Christi und der Dionysos-Mythos das Fundament des Orgien Mysterien Theaters: eine Art „Grundexzesserlebnis und Auferstehungsfest, sadomasochistische Ausschweifung und Katharsis, brutale Zerstückelung und harmonisierende Synthese, Beschwörung des Mythos als zusammengezogenes Weltbild und psychoanalytische Therapie“ [1]. 1998 kulminierte Nitschs künstlerische Vision erstmals in einem Sechs-Tage-Spiel, das vor Publikum auf Schloss Prinzendorf, dem Wohnsitz des Künstlers, stattfand. Zentrales Anliegen seiner künstlerischen Handlungen ist das intensive Erleben aller Sinne, wodurch Triebe, Unterbewusstes und Verdrängtes, psychische wie körperliche Belange zum Vorschein kommen sollen. Dies betrifft rituelle Performances mit Körpern und Blut ebenso wie seine unzähligen Malaktionen, die ein essentieller Bestandteil des Orgien Mysterien Theaters sind.

Nitsch selbst definiert die Malerei als „die visuelle grammatik [s]eines theaters auf einer bildfläche [sic]“ [2]. Bei den diesjährigen Bayreuther Festspielen inszenierte er Richard Wagners „Walküre“ mit einer Malaktion. Seine visuelle Umsetzung der Wagnerischen Klänge mündete in einem imposanten Farbenspektakel, das er mit Hilfe von zehn MalassistentInnen realisierte. Diese agierten an der Seite von OpernsängerInnen auf einer mit Leinwänden ausgelegten Bühne und erhielten über Mikrofone präzise Anweisungen, welche Farben wann, wie und wo verschüttet, verspritzt oder verteilt werden sollten. Einige der daraus hervorgegangenen Resultate sind in der aktuellen Ausstellung zu sehen. Darüber hinaus präsentiert Galerie Jahn und Jahn eine weitere Auswahl an Schüttbildern, die sowohl von 2021 als auch aus früheren Jahren datieren. Monochrome Flächen, pastose Strukturen und mit den Händen verschmierte Partien bündeln sich mit feinen Spritzern und herunterlaufenden Linien zu expressiven Kompositionen. Neben der Farbe Rot, die Nitschs Malerei – als Sinnbild für Blut, Fleisch, Feuer, Liebe oder Leidenschaft – lange dominiert hat, findet Schwarz Anwendung, das unter anderem mit Tod und Trauer assoziiert wird. Darüber hinaus spiegeln die gezeigten Arbeiten ein breites Farbenspektrum wider, das von warmen Erdtönen über ein kühles, blaues Kolorit bis hin zu bunten Kombinationen reicht. Nitsch hat sich nicht nur mit synästhetischen Zusammenhängen und Fragen der Farbharmonie befasst, sondern eine eigene Farbenlehre entworfen.

Die Varianz, wie sie sich im Laufe seiner künstlerischen Laufbahn entwickelt hat, lässt sich auch eindrucksvoll anhand der aktuellen Zeichnungen veranschaulichen, die in der Galerie als Fries arrangiert sind. Nitsch beschreibt diese wie folgt: „mein kritzeln versucht tief ins sein einzudringen, in die grundlosigkeit (ohne beginn und ende), in den grundexzess. ein totaler, weitgehender automatismus wird angewendet. über die gestik seismographiert sich die triebsituation des unbewussten [sic].“ [3]

Das Nicht-Sichtbare und unter der Oberfläche Verborgene ist gleichermaßen Handlungsort der Architektur des Orgien Mysterien Theaters: Hierzu ausgewählte Graphiken aus den 1980er-Jahren komplettieren die in der Ausstellung gezeigten Arbeiten. Die Verbindung menschlicher Gedärme und Organe mit architektonischen Elementen verweist einerseits auf die unergründlichen Schichten der Tiefenpsychologie und andererseits auf den unterirdischen Austragungsort der Spiele, der ein System verschachtelter Gänge und Gewölbe auf Schloss Prinzendorf einbezieht. In enger Zusammenarbeit mit Fred Jahn und dem Drucker Karl Imhof ist zwischen 1984 und 1991 ein Konvolut von mehr als 3.300 Einzelblättern in aufwändigen Druckverfahren entstanden (publiziert im Verlag Fred Jahn).

Hermann Nitsch (geb. 1938 in Wien, lebt und arbeitet in Prinzendorf) begann 1961 mit seiner ersten Malaktion und realisierte ab Ende der 1960er-Jahre weltweit unzählige Ausstellungen, Performances und Konzerte. Gleich zwei Museen in Mistelbach und Neapel sind dem bedeutenden Pionier des Wiener Aktionismus gewidmet, der außerdem von 1971 bis 2003 an der Städelschule in Frankfurt lehrte. Für 2022 ist die 160. Aktion auf Schloss Prinzendorf geplant.

 

[1] https://www.nitsch-foundation.com/das-omt-und-seine-disziplinen/ [Oktober 2021].
[2] Nitsch. Neue Arbeiten. New Work, Nitsch Museum, Mistelbach 2020, S. 8.
[3] Nitsch, Rita und Nitsch Foundation (Hg.): Hermann Nitsch. Zeichnungen, Prinzendorf 2018, S. 5.

29. Oktober — 27. November 2021

Galerie Jahn und Jahn
Baaderstraße 56 B und C
80469 München
Deutschland
www.jahnundjahn.com

Dienstag bis Freitag 10 — 18 Uhr